Wahrheit ist ein wegloses Land
Leseprobe

Leseprobe Kapitel 1

Voll und kräftig schwang der Ton durch den Flur. Annette war auf der obersten Treppenstufe, als das Pendel zum neunten Mal schlug. Sie stellte das Tablett auf die schmale Kommode und horchte, wie er summend verklang. Dann klopfte sie an die Tür seines Arbeitszimmers. Man hörte sein Räuspern.
»Je vous en prie!«
Sie hob das Tablett und drückte mit dem Ellbogen die Klinke hinunter. Hinter dem halboffenen Fenster leuchtete feurig orange der Abendhimmel. Er saß am Schreibtisch, kerzengerade, und im hellen Kegel der Arbeitslampe leuchtete ein Papier zwischen seinen Händen. Sie machte ein paar kurze Schritte und stellte das Tablett auf den sechseckigen Art-déco-Tisch, der in der linken Zimmerecke vor zwei breiten, rechtwinklig zueinander stehenden Ledersesseln stand. Die Stehlampe dahinter glühte schwach. Mit einem leisen Klirren rutschte die Eiszange über den kristallenen Glasrand. Sie sah zu ihm hinüber, aber er zeigte keine Regung.
»Votre Whisky, Monsieur!«, sagte sie
»Merci, Annette!«
»Haben Sie noch einen Wunsch?«
»Nein danke, Annette!«
»Darf ich mich also zurückziehen?«
»Je vous en prie, Annette!«
Sie trat ein wenig vor, um zu sehen, wie sich seine Lippen bewegten. »Es wird bald regnen!«, hatte sie Lust zu sagen. Mit den Fingern strich sie ihre Schürze glatt. Das Blatt in seinen Händen bewegte sich nicht. Verstohlen sah sie zur anderen Seite. Im Glasrahmen eines der Holzstiche an der Wand spiegelten sich seine Brille und seine Nase wider.
»Bonne nuit, Monsieur«, sagte sie.
»Bonne nuit, Annette.«
Sie tat zwei Schritte rückwärts, als erwarte sie noch ein Lebenszeichen, vollführte die Andeutung eines Knickses und drehte sich zur Tür. Im Flur verharrte sie lächelnd ein paar Sekunden, dann ging sie leise die Treppe hinunter. In der Küche legte sie ihre Schürze ab, summte eine Melodie aus »Porgy and Bess« und zog aus einer Schublade eine unter einem Handtuchstapel versteckte Zigarettenpackung. Von einem Bord über dem Herd nahm sie ein Streichholzheft und öffnete die Schiebetür zum Garten. Aus den dunklen Wolkentürmen südöstlich krochen graue Schlieren über das Tal. Sie spähte nach oben zu dem erleuchteten Fenster. Ganz bestimmt regnete es bald. Ein leichter Wind war aufgekommen. Sie hörte im Hundezwinger neben der Garage Rex’ Schwanz gegen das Gitter schlagen. Sie nahm den Plattenweg durch das die Terrasse umrahmende Rosenbeet und ging ein paar Schritte den mit Rasen bewachsenen Hang an der Seite des Hauses hinauf. Durch den Wald weiter oben fuhr ein leises Rauschen.
Auch die Bäume holten Luft.
Rücklings legte sie sich ins Gras.
Was wohl wäre, wenn er sie jetzt sähe?
Sie zündete die Zigarette an.
Wohlig spürte sie den winzigen Schwindel und blies genießerisch den Rauch wieder aus. Beeindruckend, wie gerade und regungslos er sitzen konnte. Ob er sich, wenn sie raus war, rüber an den Teetisch setzte? Das Tablett musste sie jedenfalls immer dorthin stellen.
Sie lächelte.
Vielleicht trank er den ersten Whisky noch am Schreibtisch und setzte sich erst zum zweiten in den Sessel. Manchmal hörte er auch später Musik. Rachmaninoff, Bach. Gesehen hatte sie ihn dabei noch nie.
Sie richtete sich auf, raffte ihr Kleid ein wenig und winkelte die Beine an. Im Dorf unten war die Beleuchtung angegangen. Weiß erhob sich der angestrahlte Kirchturm aus dem Bourg von Ziegeldächern. Sie sah eine Silhouette hinter den Zypressen an der Gartenmauer entlanghuschen.
»Bonsoir, ma petite Choupette!«
Sie zirpte und imitierte ein Miauen.
Mit ein paar Sätzen kam ihr die Katze entgegen.
»Ja, mein Schatz, ich rauche.«
Sie hob sie auf ihren Schoß und lachte kehlig.
»Aber das ist unser beider Geheimnis.«
Die Katze rollte sich zwischen ihre Schenkel.
»Und er sitzt derweil da oben und trinkt seinen Scotch.«
Innig kraulte sie ihr den Hals.
»Und morgen tun wir wieder das Gleiche! Ganz genauso und keinen Deut anders!«
Im Gebüsch flatterte ein Vogel auf und ein heiseres Kreischen entfernte sich.
»Aber vielleicht gibt es heute Nacht mal ein anständiges Gewitter!«
Der Rücken der Katze wurde steif, aber sie hielt sie im Nacken fest.
»Und morgen ist Vollmond. Und Dr. Ziegler fährt morgen früh nach Lyon.«
Choupette duckte sich, um ihrem Griff zu entgleiten.
»Und bei Vollmond kriege ich immer Lust zu quatschen!«
Sie ließ sie los.
»Zum Beispiel, dass ich heute Nacht mit dir tauschen will.«
Die Katze schlich dem Busch entgegen.
»Weil ich mal sehen möchte, was du hier siehst.«
Sie drehte sich um und betrachtete den hinter dem Haus liegenden Wald. Der silbrige Flor von vergehendem Licht hatte sich über die Bäume gelegt, und die trockenen Äste knackten im Wind. Gestern hatte sie dem Mond zugesehen. Genau hinter dem Gipfel war er hervorgekrochen, aber heute kam er wahrscheinlich zu spät. Die Wolken verschluckten zusehends das Licht. Es wäre aber gut, nachher den Regen zu riechen und später, wenn die Wolken verschwanden, das Mondlicht auf den nassen Grashalmen zu sehen. Sie nahm einen letzten Zug und drückte die Zigarette in der Erde eines Beetes aus. Die Katze saß jetzt reglos da. Sie streckte sich in Gras aus und schloss die Augen
»Und nichts passiert …«
Das Geräusch eines sich schließenden Fensters erklang.
»Ein Katze vor dem Sprung …«
Sie blinzelte, spielte Erwachen.
»Sich nichts anmerken lassen …«
Lachend richtete sie sich wieder auf.
»Aber irgendwann, mein Schatz, wird es vielleicht mal langweilig zu warten!«


»Machse schon zu?«
»Nee, mach gerade auf!«
Ein Stapel Terrassenstühle rutschte metallisch klirrend ineinander.
»Gib’s denn noch 'n Kleinen?«
»Wenn’s nicht zwei sind!«
Der Wirt machte eine müde Kopfbewegung und zerrte den Stuhlstapel an die Hauswand. Dann folgte er dem Gast in den Schankraum.
»Was soll’s denn sein?«
»‘nen kleinen Roten!«
»Côtes?«
Der Gast nickte und bewegte seinen Hintern auf einen der Hocker am Tresen. Er klopfte eine Zigarette aus seiner Packung.
»War verflucht heiß heute, was?«
»Kann man wohl sagen!«
»War heute in Grenoble und muss morgen nach Nîmes.«
Der Wirt stellte ein Glas auf die Theke.
»Ich beneid dich nicht!«
Ein Korken ploppte, der Wirt goss ein.
»Ich hab meinem Chef aber schon gesagt, dass ich nächstes Jahr entweder n klimatisiertes Auto kriege, oder er kann sich einen anderen suchen!«
Der Gast schürzte nachdenklich die Lippen. Der Wirt nahm einen Lappen und wienerte die Theke. Er erwischte die Zigarettenpackung des Gastes.
»Tschulligung, Francis!«, sagte er.
»Macht ja nix, Alain«, erwiderte der Gast und hob die Packung vom Boden auf.
»Und wie läuft’s bei dir?«, fragte er dann.
Der Wirt nickte in Richtung Straße.
»Siehst du ja. Noch keine zehn und keine Sau mehr draußen.«
Ein blauer Renault-Kastenwagen blieb vor der halb abgeräumten Terrasse stehen.
»Außerdem gibt’s gleich noch 'n Gewitter.«
»Was du nicht sagst«, grinste Francis.
Der Wirt beugte sich über die Theke. Zwei junge Männer stiegen aus dem Auto.
»Fremde!«
Er seufzte.
»Die wollen jetzt garantiert 'n Kaffee!«
Die Männer ließen sich an einem der übrig gebliebenen Terrassentische nieder. Der Wirt beugte sich über die Theke.
»Messieurs! Ich mach gleich zu, und auf der Terrasse gibt’s nix mehr!«
Die Männer nickten und kamen an die Theke geschlendert.
»Was darf’s denn sein?«
»Pression«, bat der eine.
»Gleichfalls«, sagte der andere.
»Sie müssen verstehen. Ist eigentlich schon Feierabend!«
»Sind Sie im Urlaub?«, wandte sich Francis an die beiden.
»Wenn man so will«, erwiderte einer.
»Aber eigentlich nicht«, sagte der andere.
»Eigentlich suchen wir 'n Job!«
»Und was für einen Job?«, fragte Francis.
Die beiden zuckten die Achsel.
»Na was gerade so kommt.«
»Obsternte …«
»… oder in 'nem Hotel«
»… oder auf 'm Campingplatz!«
»Mhm«, machte Francis.
»Entweder es gibt einen oder es gibt keinen.«
»Stimmt«, nickte Francis.
»Man muss halt mal sehen.«
»Stimmt«, erwiderte Francis erneut.
Dann ertönte von draußen eine neue Stimme.
»Bonsoir, Messieurs!«
Ein weißhaariger Mann überschritt die Schwelle.
»Guten Abend, Herr Bürgermeister!«, rief Francis.
»Außer Diensten!«, kam zurück.
»Ein Bürgermeister ist immer im Dienst.«
Der Bürgermeister trat an die Theke.
»Mir sind die Zigaretten ausgegangen, Alain!«
»Die gibt’s hier aber nur für Konsumenten!«, krähte Francis von seinem Hocker.
Der Wirt griff in eine Schublade und warf eine blaue Packung auf den Tresen.
»Meine Runde!«, rief Francis.
»Also gut«, nickte der Bürgermeister.
Francis erhob sich von seinem Hocker und stellte sich neben den Bürgermeister. Der Wirt schenkte die Gläser voll.
»Auf die Jugend!«
Der Bürgermeister hob sein Glas und prostete den beiden Männern zu, die Francis stehen gelassen hatte.
Schüchtern grinsend prosteten sie zurück.
»Die suchen Arbeit, Herr Bürgermeister«, sagte Francis.
»Na, ist ja kein Verbrechen! Was wollen Sie denn machen?«
»Obst ernten vielleicht.«
»Oder in 'nem Hotel arbeiten.«
»Was halt so kommt.«
Der Bürgermeister nickte.
»Na ja, versuchen muss man’s!«
»Und was macht die Kunst?«, wandte er sich an Francis.
»Kunst ist gut. Im Augenblick ist es Schinderei und bei dieser Hitze außerdem die reinste Sauna. Dreihundertfünfzig Kilometer heute, und morgen werden es mindestens vierhundert sein!«
»Tja, von nix kommt nix.«
»Klar! Aber 'ne Schinderei ist es trotzdem.«
Der Wirt ging wieder nach draußen und stapelte die übrig gebliebenen Stühle und Tische. Die zwei jungen Männer leerten ihre Gläser. Einer zog einen knittrigen Schein aus der Tasche.
»Kassieren, Herr Wirt!«, rief Francis.
»Ich werde dann auch mal«, sagte der Bürgermeister. Er steckte die Zigarettenpackung in die Tasche seines Jacketts.
Der Wirt kam rein, griff nach dem Geldschein und warf ein paar Münzen auf den Tresen
»Bonsoir, Messieurs!«
Die beiden Männer erwiderten den Gruß und gingen nach draußen. Der Wirt folgte ihnen. Der Bürgermeister und der Gast prosteten sich zu und tranken ihr Glas aus. Ein Motor kam stotternd in Gang. Der Wagen wendete. Dann entfernte sich das Geräusch.
»'ne Pariser Nummer!«, rief der Wirt nach drinnen.
»Komische Typen«, meinte der Gast,.
Der Bürgermeister zuckte mit den Achseln.
»Ob sie meinen, dass sie so hier eine Arbeit finden?«
»Wenn sie überhaupt eine suchen!«, rief der Wirt. Er kam rein, verschwand im Hinterstübchen und kehrte mit dem Markisenschwengel wieder.
»Ich glaube, ich hab gerade den ersten Donner gehört.«
»Das wäre 'n Segen.«
Der Bürgermeister gab Francis die Hand.
»Werde mich beim nächsten Mal revanchieren!«
Dann folgte er dem Wirt auf die Straße.
»Einen angenehmen Feierabend!«
Francis kramte in seiner Gesäßtasche und zählte ein paar Münzen ab. Er betrachtete sich im Spiegel hinter dem Flaschenregal.
»Und morgen nach Nîmes«, seufzte er.
Draußen kam die Markise quietschend in Gang.
Francis fuhr sich durch die Haare und verharrte unschlüssig einen Moment auf der Schwelle.
»Bonne nuit, Alain«, sagte er
»Bonne nuit, Francis«, erwiderte Alain.
Das Quietschen verebbte. Dann schlug die Glocke der Kirche, und die Hunde begannen zu bellen.


Dr. Robert Ziegler warf einen Blick auf die funkgesteuerte Uhr auf seinem Schreibtisch und stellte fest, dass die Glocke heute nicht mehr drei, sondern vier Minuten Verspätung hatte. Dann dachte er an Rex, und dass der den Dorfhunden erneut nicht antwortete. Er trank einen Schluck aus seinem Glas, erhob sich aus dem Ledersessel und kehrte an den Schreibtisch zurück. Dort nahm er einen Locher aus der Schublade und perforierte einen Stapel Papier. Dann trat er vor den braunen Rollschrank an der Rückwand des Zimmers, in dem in mehreren Regalen Aktenordner standen. Aus der zweiten Reihe zog er einen Band mit der Beschriftung »Transkripte« und begab sich wieder an den Schreibtisch. Er nahm ein kartoniertes Blatt, schrieb darauf »Transkript Nr. 5« und das Datum des Tages. Anschließend heftete er die Seiten ans Ende und das kartonierte Blatt an ihren Anfang. Ihm war warm. Er öffnete das Fenster, das er vorhin der Insekten wegen zugemacht hatte und schaltete die Schreibtischlampe aus. Auf dem Rasen schimmerte ein schwacher Widerschein der Beleuchtung aus Annettes Appartement. Leise Trompetenklänge waren zu hören, und ein Schatten ging vorbei. Auf der Straße, die von C. auf das Plateau hochführte, irrten gelbe Scheinwerfer zittrig durch den Wald. Dann zuckte plötzlich ein sekundenlanges Blitzen über die Hügel gegenüber. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte, setzte sich wieder auf den Schreibtischstuhl, schob den Ordner mit den Transkripten beiseite und griff nach seinem Terminkalender.
Mittwoch, 23. Juni, 14 Uhr, Lyon. Mâitre Béranger.
Ich werde ihn nur prinzipiell informieren, dachte er. Ihm aber keine Einzelheiten verraten. Er wird dagegen argumentieren.
Der Schatten eines Nachtschmetterlings huschte vorüber.
Wir haben nicht das gleiche Verständnis von Zeit. Das trennt uns, aber wahrscheinlich trennt das immer Mandanten von ihrem Anwalt.
Er hörte die Flügel des Schmetterlings nun im Schirm der Stehlampe flattern.
Anwälte verlangen Zeit, weil es nicht ihre Zeit ist, und sie haben Geduld, weil sie nicht dafür bezahlen.
Wieder leuchtete die Hügelsilhouette gegenüber auf, und er sah wie die Wipfel der Zypressenhecke am Gartenende langsam in Bewegung gerieten.
Er las die Einträge des Tages.
»Besprechung Annette: Reduzierung der Eiweiße auf dem Speiseplan, erhöhter Bedarf an Mineralstoffen, Kalzium und Vitamin C. 
Besprechung Gärtner: Erneuter Schädlingsbefall auf Rosen, neue Rasenbewässerungsanlage.
Rex: Wachsende Geradlinigkeit. Apportierzeit für versteckte Geldbörse, Entfernung zirka ein Kilometer: Sechs Minuten einundfünfzig Sekunden.«
Ein Miauen kam von der Terrasse, und eine Tür wurde geöffnet. Eine Böe fuhr durch die Zypressen, und der Laden eines Fensters schlug dumpf gegen die Hauswand.
Endlich, dachte er. Dem Garten wird es guttun.
Er schaltete die Schreibtischlampe wieder an und nahm einen Stift aus dem Federhalter.
Etwas wissen und nicht danach handeln, ist in Wirklichkeit kein Wissen, schrieb er an das Ende der Seite.
Aber meine Zeit hat jetzt ein Ziel.
Diesen Satz unterstrich er zweimal, dann klappte er das Notizbuch zu, und als die ersten
Regentropfen fielen, löschte er alle Lichter und verließ das Zimmer.