Wahrheit ist ein wegloses Land
Leseprobe

Vorwort von Vito von Eichborn
Meine Buchhändlerin sagte mir, »ja«, sagte sie …

    »Ja, das Thema hört sich ganz gut an. Kurz gefasst: Ein Dorf sucht den Mörder eines achtjährigen Mädchens, richtig? Ich habe nur das Problem, dass die Fluten an Krimis der letzten zehn Jahre mich längst überrollt haben.
    Wie viele Krimis braucht die Menschheit?«
  »Aber dies ist doch gar kein Krimi!«, widersprach ich heftig, »dies ist richtig gute Literatur, im allerbesten Sinn. Ich verlange von einem guten Roman erstens, dass er mich fesselt und unterhält, zweitens, dass er nicht eindimensional ist, nicht einfach abgeschriebene Wirklichkeit oder simples Schwarz-Weiß, drittens, dass er mich nachdenklich macht über grundlegende Fragen des Menschseins – und zwar ohne pädagogischen Zeigefinger. All das löst dieses tolle Buch ein …«
    »Ja, aber es geht doch um einen Mord«, unterbrach mich meine Buchhändlerin wie immer, »und um die Aufklärung des Falls.«
    »Aber das ist doch nur die Folie. Die große Weltliteratur ist voller Morde, ohne dass man die Bücher Krimi nennt. Hier geht es um die menschliche Psyche, um den kollektiven Wahn eines Dorfes, um Vorurteile, Klatsch und Geltungssucht, auch um die Mechanismen der Politik und der Medien…«
    »Halt! Bitte von vorne: Was ist die Handlung?«, fuhr sie mir erneut in die Parade. »Mal ganz einfach und in wenigen Sätzen.«
    »Also, das Ganze spielt in einem südfranzösischen Dorf. Im Mittelpunkt steht die Dorfkneipe. Alle treffen sich dort, Bäcker, Bürgermeister, Polizist und so – wunderbar geschildert. In einem schönen Haus wohnt ein gebildeter älterer Herr mit seiner rätselhaften Haushälterin. Auf dem Berg in einem völlig heruntergekommenen Hof lebt eine Art Hippiekommune, die den Dörflern höchst suspekt ist, da sie freie Liebe praktiziert und auf der Suche nach einem besseren Leben ist. Die achtjährige Natascha, Tochter der Wirtin, ist verschwunden. Das ganze Dorf macht sich auf die Suche. Unweit von einem Bach wird das Mädchen missbraucht und ermordet aufgefunden. Dies ist das Setting. Nun haben wir die wichtigsten Beteiligten aus dem Dorf, ihre Charaktere und Lebensumstände kennen gelernt. Hinzu kommen Kriminalisten auf der Spurensuche und bei Verhören, Presseleute auf der Jagd nach der großen Story, Politiker und andere Trittbrettfahrer, die von der Sensation profitieren wollen. Indizien weisen darauf hin, dass der Anführer der Hippies der Täter ist. Das gesamte Dorf, aber auch die Presse ist davon überzeugt. Doch einem Ermittler kommen erste Zweifel.
    So, jetzt aber genug von dem Plot. Der Roman ist jedenfalls geschrieben wie ein großer Film. Und anders als Besinnungsliteratur braucht Kino ja kontrastierende Schauplätze und Personen, braucht Tempo und gewissermaßen in jeder Szene und jeder Sequenz ständige Überraschungen, um fortdauernd Spannung zu erzeugen. Hier, in dieser ereignisreichen Fülle des Geschehens, sehe ich ständig wechselnde Bilder, und als Leser werde ich von der Suche nach der Wahrheit ebenso gebeutelt wie die Beteiligten, in einem Wust aus Verdächtigungen und Halbwahrheiten, Indizien und falschen Fährten, Intrigen und Machtgebaren …«
    »Ja, nun ist’s ja gut.« Meine Buchhändlerin wurde ungeduldig wegen meines begeisterten Redeschwalls. »Das hört sich ja ein bisschen wie dieser großartige Bestseller ›Tannöd‹ an. Wie geht das Ganze denn nun aus?«
    »Moment. Ja, es ist durchaus verwandt mit Tannöd und basiert auch auf einem realen Fall. Nur ist hier viel, viel mehr los, in jeder Beziehung. Also: Richter und Staatsanwalt, Kripo und Presse, eine Bürgerinitiative und die Bevölkerung verstricken sich immer tiefer, dann folgt ein fabelhaft geschilderter Prozess, der an »Zeugin der Anklage« erinnert – bis zu dem, wie sich das gehört, vollkommen überraschenden Schluss. Und den, meine Liebe«, nun grinste ich maliziös, »den müssen Sie schon selbst rauskriegen. Denn nur, wenn Sie das Buch ganz gelesen haben und so angetan sind wie ich, werden Sie es gut verkaufen. Ihre Leser …«
    Sie ließ mich einfach stehen, weil eine Kundin den Laden betreten hatte. Aber ihrem Gesichtsausdruck hatte ich angesehen, dass es mir gelungen war, ihren Appetit auf die Lektüre zu wecken.
    Ist mir das auch bei Ihnen geglückt?
    Jedenfalls verspreche ich gute Literatur und großes Kino im Kopf. So einen Roman will man nicht aus der Hand legen, und ich hoffe, dass wir von diesem Autor noch viel mehr zu lesen bekommen.

Wohl bekomm’s
wünscht
Vito von Eichborn